Zugzwang

Zugzwang ist das bisher größte und umfangreichste Werk des Künstlers. Es ist auf zwei A1-Papierbögen gezeichnet, zusammengesetzt zu A0. Knapp ein Monat hat Graf mit der Planung, ein weiteres mit der Umsetzung zugebracht. Sechzehn Stunden zeichnete er jeden Tag, unzumutbar für ein Model, so lange still zu sitzen. Selbst ein klassisches Selbstporträt vor dem Spiegel war nicht möglich. Graf sitzt im Porträt spiegelverkehrt, sodass er sich selbst am besten wiedererkennt. Graf hat sich der Hilfsmittel der Fotografie bedient, auch, um die Bildgestaltung noch akribischer planen zu können. (Mehr)
Durchdacht bis zum letzten Zug
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Auf eine Klarsichtsfolie zeichnete er den Goldenen Schnitt anhand der Berechnungen von Leonardo Fibonacci und klebte sie auf das Display der Kamera. Auf diese Weise konnte er entlang der Linie die Gegenstände des Werkes anordnen und ein geometrisches Gesamtwerk kreieren.
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Mehr als ein Selbstportrait
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Folgt man der immer kleiner werdenden Schnecke des Goldenen Schnittes von rechts oben in das rechte untere Zentrum des Bildes - wie das Auge es automatisch tut - streift der Blick zahlreiche Gegenstände, die Graf in einer hierarchischen Anordnung in der Szene platziert hat. Jeder Gegenstand birgt eine Geschichte und ist mitverantwortlich für die Gesamtaussage des Werkes. Es handelt sich also nicht nur um ein Selbstporträt im klassischen Sinne, also der Abbildung der Physiognomie des Künstlers, sondern geht darüber hinaus: ein Porträt des Innen- und Außenlebens, bei dem das Aussehen des Künstlers nur auf den ersten Blick die zentrale Rolle spielt.
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Bei genauer Betrachtung rücken die Gegenstände (angeordnet um das Zentrum, den Künstler selbst) in den Mittelpunkt, zum Beispiel der schwerere Vorhang im rechten oberen Bildrand. In den Falten des Vorhangs ist ein Zitat versteckt: der Künstler verweist auf Leonardo da Vincis Abendmahl, die Vorhangfalten haben im Verhältnis den gleichen Abstand wie die Säulen im Renaissancegemälde. Die Falten sind – anders als der Rest des Bildes – mit Pinsel gemalt, anstatt wie üblich mit Tuschestiften. Es ist das erste Mal, dass der Künstler in seinem Werk auf diese Technik zurückgreift. Sie gibt dem Bild Spontanität und bisher nie gesehene Emotion in den sonst so mathematisch perfekt ausgeklügelten Anordnungen der Formen. Es waren die ersten Striche des Werkes, ein energischer Anfang einer wochenlangen Arbeit mit dem Anspruch auf ein möglichst vollkommenes Selbstporträt.
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Vorbild war unter anderem Jan Vermeers Die Malkunst aus dem 17. Jahrhundert. Auch dort sitzt der Künstler an einer Staffelei – und auch ein markanter Vorhang ist zu sehen. Links neben dem Vorhang in Grafs Bild, an einer kahlen Wand, hängt ein gerahmtes Bild eines venezianischen Gondolieres, elegant mit Hut und Sakko. Es verkörpert die Sehnsucht nach einer Reise, die sich der Künstler zur damaligen Zeit nicht leisten wollte. Man möchte meinen, die Kleidung gehöre dem Künstler, der sie sich nach der Sitzung für das Selbstporträt überstreift und seinen Traum der Reise ins Land von da Vinci auslebt.
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Der Kleiderständer steht auf einem rauen Holzboden, die Maserung ist deutlich erkennbar abgebildet. Der Künstler verweist hier auf Max Ernst, für den Maserungen von Holzböden die Rettung vor dem leeren Blatt Papier waren: Ernst hatte eine regelrechte Phobie vor dem unendlichen Weiß eines leeren Blattes, dass er den Anfang seiner Zeichnungen oft dem Zufall überließ, etwa durch Spritzen von Farbe, oder dem Schraffieren auf bestimmten Untergründen, oft einem gemaserten Holzboden, dessen Oberfläche er für besonders interessant befand. Denn auch der Zufall ist beinflussbar.
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Das Schachbrett als Impuls, Herzstück und Namensgeber
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Vor dem Kleiderständer, ein Stapel von Büchern, auf deren Rücken ein Habicht abgebildet ist, ein Vogel, Jahrhunderte lang Teil von abergläubischen Praktiken. Die Bücher handeln von der germanischen Geschichte – ein Interessensgebiet des Künstlers, aus dem er große Inspiration für sein Schaffen schöpft. Auf den Büchern steht das Herzstück und der namengebende Gegenstand des Werkes: ein Schachbrett. Graf ist selbst ein passionierter Schachspieler. Er ist fasziniert von der Komplexität, der Einzigartigkeit und der scheinbaren Unendlichkeit in den Möglichkeiten der Kombination. Seit dem frühen Kindesalter spielt Graf mit seinem Großvater und online bei Turnieren. Ein gnadenloses, brutales Spiel: Wer verliert, war schlechter. Ein Spiel ohne Ausreden, ohne Glücksfaktor. Ein falscher Zug gleicht einem unsauberen Strich auf einer Leinwand: einmal begangen ist er schwer zu kaschieren.
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Graf kennt zahlreiche historische Partien auswendig. Besonders begeistert ist er von der Unsterblichen Zugzwangpartie. 1923 in Kopenhagen zwischen Aaron Nimzowitsch (schwarze Steine) und Friedrich Sämisch (weiße Steine) gespielt, ging sie in die Schachgeschichte ein. Sie ist eine der wenigen Partien, bei der der allgemein bekannte Schachspruch „der mächtigste Vorteil ist am Zug zu sein“ außer Kraft gesetzt worden ist. Nimzowitsch brachte Sämisch mit dem vielleicht bemerkenswertesten Zug der Schachgeschichte in die Bredouille, sodass dieser keinen weiteren Zug mehr machen konnte, ohne seine Position extrem zu verschlechtern. Das Spiel, das Graf – so wie alles andere – spiegelverkehrt gezeichnet hat, steht exakt wie das Spiel vor knapp hundert Jahren. Der letzte, entscheidende Zug ist noch nicht getan. Nimzowitsch führt den genialen Zug „h6“ durch, der Zugzwang deklariert. Dieser Zug, spiegelverkehrt notiert auf einem Zettel, findet sich neben dem Brett. „h6“.
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Zugzwang, ein unübersetzbarer Begriff der deutschen Sprache, der es Graf derart angetan hat, dass er sein erstes Selbstporträt und bis dahin größtes Bild danach benannt hat. So fühlte sich auch der Künstler zum Zeitpunkt des Entstehens des Bildes: unter Zugzwang. Wie der Held einer Heldenreise hatte er bis zu dem Zeitpunkt eher reagiert als agiert. Zum ersten Mal – mit einem selbstermächtigenden Porträt – wird er zum Handelnden.
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Unter dem Schachbrett, auf dem Bücherstapel: die Uhr des Künstlers. Eine Hommage an Garri Kimowitsch Kasparow, einen russischen Schachspieler, den Graf verehrt. Vor jedem Spiel hat dieser seine Armbanduhr neben das Schachbrett gestellt, und erst wieder nach der Partie angelegt. Graf hat dieses Ritual kopiert und seine eigene Uhr vor dem Malen abgestellt – und erst wieder angelegt, als sein Spiel - das Malen des Bildes - zu Ende war. Die Zeiger der Uhr zeigen dieselbe Uhrzeit, wie die Uhren der zerrinnenden Zeit in Salvador Dalís Werk Die Beständigkeit der Erinnerung.
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In der Mitte des Werkes schließlich: der Künstler selbst. Er sitzt an der Staffelei, an der er auch sonst zeichnet, trägt ein gestreiftes Hemd und trägt Feder in der einen, Tintenfass in der anderen Hand.
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